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AKTUELL IM BLICKPUNKT
„ANGSTGEGNER“ ITALIEN ENDLICH BESIEGT
Jonas Hector hat mit dem letzten Elfmeter beim „Drama in Bordeaux“ das deutsche Fußball-
gefühl verändert: Italien kann künftig kommen! Das Zittern und Zähneklappernwar jahrzehnte
lang grausam, jetzt aber lassen wir die scheinbar so unausweichlichen Tiefschläge hinter uns
und sagen zu den vielen Tragödien laut adieu. Seit dem Dammbruch beim Bannbruch im
EM-Viertelfinale am 2. Juli 2016 geht es allen Deutschen wie früher Fritz Walter – unser
WM-Held von Bern hatte immer schon große Sehnsucht nach Bella Italia. Der mehrfach
preisgekrönte Sportfeuilletonist Oskar Beck erinnert sich und blickt voraus.
Generationen deutscher Nationalspieler mussten den Albtraum „Italia“ erleben –
bis Jonas Hector im EM-Viertelfinale 2016 zum Elfmeterpunkt ging
Es soll ein paar Deutsche geben, die
seit diesem Juli den Rüssel hängen
lassen, weil unsere Weltmeister ohne
den EM-Titel aus Frankreich heimge-
kehrt sind. Freunde, kommt zu Euch!
Europameister können wir noch oft
genug werden, und künftig leichter
denn je – denn unser Hauptziel haben
wir bei der EURO 2016 in Frankreich
erreicht: Die Italiener rauben uns
nicht mehr den Schlaf.
Um unser Gefühl der Erleichterung
zu beschreiben, lassen wir am besten
ein paar ausgesuchte Überschriften
sprechen: „Der Fluch ist gebannt“,
jubelte in der Stunde der Befreiung
das Fachblatt „kicker“. „Der Fluch
ist besiegt“, frohlockte „Die Zeit“.
„Geschafft! Das Trauma Italien ist
besiegt“, stöhnten „11Freunde“ – und
„Die Welt“ verkündete im Rahmen
der neugewonnenen Lebensfreude:
„Wir schlagen ein neues Kapitel auf
in der deutsch-italienischen Fußball-
Geschichte.“
Endlich! Ende des Albtraums.
Schluss mit dem Zähneklappern.
Jonas Hector, unser linksfüßiger
Husar aus Köln, hat mit seinem
letzten Elfmeter beim „Drama von
Bordeaux“ diese schon fast in den
Stein der Ewigkeit gemeißelte Angst
schlagartig aus unseren deutschen
Hinterköpfen geballert – sein Schuss
war zugleich historischer Bannbruch
und emotionaler Dammbruch, oder
sagen wir es mit „Bild“ im Namen
des Volkes: „In seinem 19. Länder-
spiel schießt sich Hector in die
deutsche Fußball-Geschichte. Und
uns frei! Wir zittern nicht mehr vor
Italien.“
Die Jüngeren unter uns können sich
das Ausmaß dieses Aufatmens beim
1:1 nach 120 Minuten und insgesamt
18 Elfmetern zum Herbeiführen der
Entscheidung nicht einmal annä-
hernd vorstellen. Durch die Gnade
der späten Geburt ist ihnen erspart
geblieben, was beispielsweise Uwe
Seeler schon 1962 bei der WM in
Chile am eigenen Leib verspüren
musste: Die Unmöglichkeit, gegen
Italien bei einem großen Turnier zu
gewinnen. In vier Vorrunden hatten
wir es vergebens versucht – und
wenn es um die Wurst ging, sind wir
viermal k. o. gegangen, das letzte Mal
bei der EM 2012.
„Die Zeit ist gekommen, um Italien
zu besiegen“, beruhigte Bundes
trainer Joachim Löw vor dem dama
ligen Halbfinale die deutsche Fuß-
ballseele. Aber ein Angstgegner ist
ein Albtraum, bei dem es kein ein
faches Aufwachen gibt. Und kein
anständiger Deutscher wird jemals
dieses furchtbare Bild aus Warschau
verkraften: Mario Balotelli, wie er
sich nach seinen zwei Toren das
Trikot vom Waschbrettbauch riss,
den Bizeps hüpfen ließ und seine zwei
Fäuste derart vor der Lende ballte,
dass sie aussahen wie Straußen-Eier
aus Keramik.
Der Dammbruch
zum Bannbruch: Neue Lust
auf Bella Italia