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AKTUELL IM BLICKPUNKT
COMEBACK IN LATEINAMERIKA
Die Deutschen wohnen in der
Militärschule Bernardo O’Higgins,
und während des Trainings sehen
sie behelmte Soldaten beim Exer­
zieren. Aber die Nachkriegszeit ist
vorbei, und Fußballer stehen nicht
mehr stramm. Sie tragen jetzt
Jeans, und abends wird gekartelt.
Vor allem „die Italiener“ lassen
die Scheine flattern, notiert später
Jürgen Leinemann in seinem
Herberger-Buch („Ein Leben, eine
Legende“) – andererseits schießt
Brülls aber auch ein Tor beim 2:1
gegen die Schweiz. Zur Entspannung
dürfen sich die Sieger auf einen
Sprung ins Nachtleben von Santiago
stürzen – und als morgens um
Zwei die letzten Spätheimkehrer zur
Dusche eilen, steht dort der Bun­
destrainer und fragt: „Na, Männer,
Generalreinigung?“
Nach dem 2:0 gegen Chile, das
Szymaniak und Seeler im örtlichen
Hexenkessel („Chi-Chi-Chi-le-le-le!“)
bewerkstelligen, sieht es kurz gut
aus, doch das Erwachen ist bös:
Viertelfinale gegen Jugoslawien, 0:1
Radakovic – Heimflug. Bei der
Landung in Frankfurt schlägt Sepp
Herberger viel Feindseligkeit ent­
gegen. Der alte Held ist zermürbt. Nur
einen letzten Wunsch hat er noch:
„Wenn wir mithalten wollen, brauchen
wir eine Bundesliga.“ Am 28. Juli 1962
sagt der DFB-Bundestag „Ja“. So hat
Chile doch noch sein Gutes.
42 und sagt ab. Den lebenslustigen
Helmut („Boss“) Rahn, seinen an­
deren Berner Exhelden, kriegt der
Bundestrainer zwar noch mal weg
von der Theke, aber dann verletzt
sich der Boss. Dafür ist jedoch der
reaktivierte Hans Schäfer (34) als
Kapitän von Anfang bis Ende dabei.
Als Herberger mit seinen Männern in
Chile eintrifft, ist er froh über jeden,
der den Ball stoppen kann, ohne sich
zu verletzen. Wie Horst Szymaniak,
Helmut Haller oder Albert Brülls.
Der eine ist schon Profi in Italien,
die zwei anderen haben ihre Verträge
in der Tasche – und 54er-Altheld
Max Morlock, der die WM als Jour­
nalist begleitet, schimpft: „Es ist
ein Armutszeugnis, wenn wir auf
Spieler zurückgreifen, die im Ausland
ihr Geld verdienen.“ Die Stimmung
könnte toller sein.
Fahrian rettet das 0:0
am 21. Geburtstag
Ob Hans Tilkowski vor Wut tatsäch-
lich Teile des Hotelmobiliars zerlegt
hat, soll hier nicht näher untersucht
werden – jedenfalls aber steht statt
dem langjährigen Stammtorwart
über Nacht plötzlich der junge Wolf-
gang Fahrian im Kasten. Und der
Heizungsmonteur von der zweit­
klassigen TSG Ulm rettet an seinem
21. Geburtstag im ersten Spiel das
0:0 gegen Italien.
Calli hat, was Südamerika betrifft,
seinen frühen Schock offenbar nie
überwunden. Ein Bub mit 13 war er,
als er dieses prägende Schlüssel­
erlebnis hatte: Chile, 1962. Gräss­
liche Dinge hat er sich damals an-
schauen müssen, mindestens aber
anhören können – über Kurzwelle.
Live im Fernsehen geht nämlich
nichts, es existiert noch kein TV-Satellit. Die Filmrollen kommen mit
der Lufthansa aus Santiago, und
die Spiele gibt es mit zweitägiger
Verspätung als Konserve. Was aber
nicht schlimm ist. Denn es ist eine
düstere WM. Die Stadien sind halb
leer, die Chilenen leiden noch unter
ihrem grauenhaften Erdbeben von
1960. Und der Fußball passt dazu.
Früh verletzt sich König Pelé, und die
WM wird zu einem Defensivgewürge
mit Tritten und Nasenbeinbrüchen.
Auch Sepp Herberger geht auf
Nummer sicher. Der Bundestrainer
ist inzwischen 65, und im Rentenalter
läuft man keinem mehr ins Messer –
vor allem, wenn einem, wie er später
zurückblickt, „die Spielerpersön­
lichkeit fehlt“. Herberger hätte als
Strategen gerne noch mal Fritz
Walter dabei gehabt, aber der ist
0:0 IM AUFTAKTSPIEL GEGEN ITALIEN: WILLI SCHULZ
UND WOLFGANG FAHRIAN KLÄREN GEGEN OMAR SIVORI.
WIMPELTAUSCH VOR DEM VIERTELFINALE
GEGEN JUGOSLAWIEN: MILAN GALIC UND HANS SCHÄFER.
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