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VOR 60 JAHREN
DER GEIST VON SPIEZ
Fein säuberlich hat Fritz Walter sein Autogramm
gegeben. Auch die Unterschriften von Helmut
Rahn, Max Morlock, Hans Schäfer, Horst Eckel,
Uli Biesinger, Karl Mai, Paul Mebus und Richard
Herrmann lassen an Deutlichkeit nichts zu wün-
schen übrig. Mit etwas Fantasie sind zudem die
Namenszüge von Ottmar Walter, Werner Kohl­
meyer, Fritz Laband, Berni Klodt und Karl-Heinz
Metzner zu entschlüsseln. Und an Klarheit kaum
zu übertreffen ist die Signatur des damaligen
Chefs vom Ganzen, Bundestrainer Sepp Herberger.
Der Geist
von Spiez
Was auffällt: Damals, vor 60 Jahren,
haben die Stars des deutschen Fuß-
balls nur ihren Familiennamen als
Autogramm niedergeschrieben. Und:
Sie haben sich hierfür Zeit genom-
men, sodass ihr Namenszug auch
noch Jahrzehnte später klar und
deutlich zuzuordnen ist. Fast einem
Märchen gleich erscheinen die Um-
stände, wie der Sammler jener Auto-
gramme in den Besitz dieses einzig-
artigen Dokuments und Souvenirs
gekommen ist.
Es war früh am Morgen am 3. Juli
1954, als Ernst Piep unvermittelt
beschloss, mit seinem VW Käfer nach
Bern aufzubrechen, um dort das
WM-Finale Deutschland gegen Un-
garn im Wankdorf-Stadion mitzuer­
leben. Doch lassen wir Herrn Pieps
Tochter, Christine Parusel, erzählen,
die uns die Autogrammkarte, datiert
vom 3. Juli 1954, auf der Rückseite der
offiziellen Postkarte zur FIFA-WM
1954 übermittelt und den Bericht
ihres Vaters noch genau im Kopf hat:
„Ohne Eintrittskarte oder gar ein
Quartier zu haben, erreichte mein
Vater die Schweizer Hauptstadt.
Nach stundenlangem Herumfahren
bei der vergeblichen Suche nach
einem Zimmer steuerte er den Ort
Spiez an. Dort fragte er im Hotel
Belvedere nach einem freien Zimmer.“
Im Hotel Belvedere, dem Mann-
schaftsquartier des deutschen Na­
tionalteams während des gesam-
ten WM-Turniers, das am nächsten
Tag mit dem Finale seinen Höhepunkt
erreichte!
Lassen wir Frau Parusel aber weiter
berichten. „Mein Vater staunte nicht
schlecht, als der Herr an der Rezep­
tion antwortete: „Sie haben Glück,
die Frau von Fritz Walter reist erst
morgen an. Das Zimmer können
Sie bis dahin buchen.“ Nach all den
Strapazen zufällig mit der deut-
schen Nationalmannschaft unter
einem Dach zu schlafen, lässt das
Herz eines Fußballfans schon mal
höher schlagen.
Es sollte freilich noch schöner kom-
men für diesen Fußballfan und sein
Herz etliche Takte höher schlagen
lassen an diesem Vorabend des
„Wunders von Bern“.
„Am Abend sitzt das deutsche Team
im Nebenraum zusammen. Mein
Vater fragt, ob er sich dazusetzen
dürfte. Freundlich wird er eingeladen,
sitzt mit den Jungs samt Sepp Her-
berger am Tisch und unterhält sich.
An der Rezeption holt er sich schließ-
lich eine WM-Postkarte mit Brief-
marke, geht zum deutschen Team
zurück und bittet die Spieler ein-
schließlich Trainer um ihre Unter-
schriften. Die Bitte erfüllen sie
meinem Vater gerne.“
Der Geist von Spiez. Freundlich und
voller Verständnis.
Aus heutiger Sicht das „Mirakel von
Spiez“ am Abend vor der Geburt
der „Helden von Bern“. Ihrer Konzen-
tration hat der Mannschaft diese
kleine Störung, falls sie überhaupt
als solche empfunden wurde, nicht
geschadet. Denn Christine Parusels
schriftliche Erzählung endet mit
der Feststellung, die längst All­
gemeinwissen ist: „Am nächsten
Tag wurden sie Weltmeister. Das
Wunder von Bern!“
Wolfgang Tobien
Ein deutscher Fußballfan und sein einzigartiges Erlebnis
am Abend vor dem „Wunder von Bern“:
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