CdN Magazin 23 ePaper - page 27

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Kein Wunder, denn alle wissen, er
macht auch bei unangenehmen
Dingen den Mund auf. Von ihm fühlen
sie sich bestens vertreten. Was sich
damals für ihn geändert hat? „Ganz
einfach, gehst Du vor die Herde,
machst Du Dich angreifbar. Also
kannst Du nicht mehr überall dabei
sein.“ Beispiel: Nach dem Triumph
gegen Platinis Tricolore chauffiert
der DDR-Spielführer im Trabant
Kombi gleich acht feierwillige Mit-
spieler in eine Nachtbar. Vor dem
Lokal ist für ihn aber Schluss. Müller,
der Pragmatiker und ein Torhüter der
Extraklasse, bleibt sich und seinen
Prinzipien eben treu.
Die DDR ist Mitte der 80er-Jahre
längst in Stagnation erstarrt. Im
Fußball aber weht ein frischer Wind.
Die Junioren mit Matthias Sammer
werden Europameister. „Kein Zufall“,
findet René Müller und verweist auf
die Strukturen, die heute in sehr
ähnlicher Form im wiedervereinigten
Deutschland praktiziert werden.
Ihm selbst bleibt ein großes Turnier
verwehrt. Dabei ist sein Team für
Olympia 1984 in Los Angeles quali­
fiziert. Aber Moskaus Boykott wird
auch für Müller zum Schicksal.
Der Kapitän der DDR-Auswahl kämpft
weiter verbissen um seine Chance,
Hält die EM-Qualifikation für die End-
Sein Stahlbad erlebt Dörner beim
olympischen Turnier. Nach dem tor­
losen Auftakt gegen Brasilien muss
das Kollektiv zum Rapport. DDR-
Sportboss Manfred Ewald nietet die
vermeintlichen Versager zusammen.
Droht, sie mit der nächsten Maschine
nach Hause zu schicken. Im Zwiespalt
der Gefühle dreht der 25 Jahre alte
Libero groß auf. Führt sein Team mit
drei Siegen in Folge gegen Spanien,
Frankreich (mit Platini) und die UdSSR
ins Finale gegen Polen. Angeführt von
Dirigent Dörner lässt die DDR dem
WM-Dritten von 1974 keine Chance.
Die wohl glücklichste Stunde im Ost-
Fußball wird bis früh um 6 begossen.
Als Dörner und Co. ins Mannschafts-
quartier zurückkehren, treffen sie im
Fahrstuhl auf Manfred Ewald. Wortlos
geht der Sportboss an ihnen vorbei.
Hoch oben auf der Tribüne der WM-
Arena des ehemaligen Leipziger
Zentralstadions treffen wir René
Müller, den heute 56-jährigen Scout
von Borussia Mönchengladbach. Vor
30 Jahren führt er als Kapitän die
jungen Wilden von Kirsten über Stüb-
ner bis hin zu Thom zur 2:0-Sensation
gegen Europameister Frankreich.
Neu ist die Philosophie: Unter Trainer
Bernd Stange gibt es begeisternden
Sturm und Drang. Und: Der Spielführer
wird demokratisch gewählt. Müllers
Name ziert die meisten Zettel.
LETZTES LÄNDERSPIEL DER DDR-AUSWAHL AM 12. SEPTEMBER 1990:
MATTHIAS SAMMER (GANZ LINKS) ALS EINMALIGER KAPITÄN IN BRÜSSEL GEGEN BELGIEN.
runde 1988 in der Bundesrepublik fast
im Alleingang offen. Um dann zum
Abschluss gegen die Russen einmal
zu patzen. Seinen Trost findet er mit
Lok Leipzig im Europacup. Genießt
die Sternstunde imHalbfinal-Rückspiel
beim Elfmeterschießen im Hexen­
kessel der 100.000 gegen Bordeaux
(Leipzig zieht nach dem 6:5 ins Finale
gegen Ajax Amsterdam ein, das mit
0:1 verloren wurde). Doch irgendwann
platzt ihm der Kragen. Junge Spieler
sieht er nicht mehr ausreichend gefor-
dert. Und schon gar nicht diszipliniert.
Die Heuchelei kennt
keine Grenzen
Dazu kommt der erschreckende Zu-
stand seiner Heimatstadt. Leipzig
verfällt mehr und mehr. Die Heuche-
lei aber kennt für ihn keine Grenzen.
Im Frühjahr 1989 knallt er den Ver-
antwortlichen die Kapitänsbinde auf
den Tisch: „Das wars!“ Sein Fazit heute:
„Für das Land habe ich gerne Fußball
gespielt, nicht aber für die Politik!“
Im August 1991 schafft Müller, was
seinen Vorgängern Bransch und
Dörner zeitlebens verwehrt geblie-
ben war. Er gibt bei Dynamo Dresden
sein spätes Bundesliga-Debüt. Da ist
er 32 und trägt – natürlich – am Arm
die Binde des Kapitäns.
Uwe Karte
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