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AKTUELL IM BLICKPUNKT
DEUTSCHLAND UND DIE WM-ELFMETER
Wie wird man Weltmeister? Aus deutscher Sicht ist das einfach: Zum Beispiel muss man
bei einer WM entweder den letzten oder den ersten Elfmeter verwandeln. Andy Brehme
und Thomas Müller haben es vorgemacht, der eine im WM-Finale 1990, der andere beim
WM-Auftakt 2014. Aber auch im Elfmeterschießen nach 120 Minuten behalten wir die
Nerven, denn neben eiskalten Vollstreckern hatten wir stets auch kaltschnäuzige Torhüter,
in deren Stutzen notfalls Spickzettel stecken. Der vielfach preisgekrönte Sportfeuilletonist
Oskar Beck über eine ganz spezielle deutsche WM-Erfolgsdisziplin.
Die WM, die Elfmeter und wir: eiskalt am Punkt, ganz cool auf der Linie
Bei der WM 2014 in Brasilien ergriff in
der DFB-Pressekonferenz einmal ein
portugiesisch sprechender Reporter
das Wort. Er war auf eine Statistik
gestoßen, die ihn offenbar beunru­
higte, jedenfalls fragte er mit brüchi-
ger Stimme: „Deutschland hat alle
seine vier WM-Elfmeterschießen
gewonnen und von 18 Strafstößen
17 verwandelt. Woher kommt das?“
Passenderweise saß Andreas Köpke
auf dem Podium, als amtlich aner-
kannter Sachverständiger. Der Bun-
destorwarttrainer stellte lächelnd
den Mundwinkel schräg und antwor-
tete: „Es hängt mit der Nervenstärke
zusammen. Wir sind mental stark.
Und wir haben immer einen starken
Torhüter auf der Linie.“
Köpke sprach in dem Moment auch
von sich. Bei ihm war es die Europa-
meisterschaft 1996, als er auf dem
Weg zum Titel die Gegner das Zittern
lehrte – erst parierte er in der Vor­
runde, auf einem verdammt schma-
len Grat zwischen Ausscheiden und
Weiterkommen, einen Strafstoß des
Italieners Zola, und im EM-Halb­
finale zerstörte er beim Elfmeter-
schießen in Wembley die Träume
der Engländer. Letztere hatten zuvor
schon unter Bodo Illgner gelitten,
denn der Kölner sorgte mit seinem
Heldenreflex im Shootout des WM-
Halbfinales 1990 dafür, dass der Ko-
mödiant Matze Knop heute unge-
straft sagen darf: „Es ist einfacher,
einem Schwein beizubringen, Helikop-
ter zu fliegen, als einem Engländer zu
zeigen, wie man ein Elfmeterschießen
gewinnt.“
Wie wird man Weltmeister? Aus
deutscher Sicht ist die Antwort ganz
einfach: Zum Beispiel muss man bei
einer WM entweder den ersten oder
den letzten Elfmeter verwandeln.
Auf den letzten kommen wir später
zurück – fangen wir aus Aktualitäts-
gründen mit dem ersten an. Den hat
Mitte Juni in Brasilien Thomas Müller
vollstreckt, gleich am Anfang, ganz
früh im ersten Spiel gegen Portugal.
Nullnull stand es, und Müller wusste:
In solchen Momenten werden Wei-
chen gestellt. Der Münchner hat
seine Empfindungen vor einem Elf-
meter einmal so beschrieben: „Wenn
es soweit ist, bin ich im Tunnel und
versuche, cool zu bleiben. Ich habe
meine Ecke, in die ich schießen
möchte. Aber ich versuche immer
noch auf den Torwart zu schauen,
damit der nicht schon in meiner Ecke
liegt, wenn der Ball dort ankommt.“
Der Portugiese flog in die richtige
Ecke, aber der Ball, scharf getreten,
schlug trotzdem unhaltbar ein. Müller
ist Müller, kalt wie eine Hunde-
schnauze, und beim Elfmeter steht
„Bärentöter“ beim
Goldenen Schuss
WEICHENSTELLUNG ZUM WM-TITEL:
THOMAS MÜLLER NACH SEINEM
VERWANDELTEN ELFMETER GEGEN
PORTUGAL.
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