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AKTUELL IM BLICKPUNKT
DEUTSCHLAND UND DIE WM-ELFMETER
einem Querverweis auf seine drücken-
den Schuhe sagte: „Schieß du.“
Brehme hat den bedeutendsten
Elfmeter der deutschen Fußball
geschichte dann verwandelt. Aber
hat er das volle Ausmaß seiner Ruh-
mestat je begriffen? Ein Jahr später
haben wir ihn angerufen, um diesen
goldensten Schuss seines Lebens
noch einmal mit ihm zu analysieren –
wir wollten wissen, wie er ihn verar-
beitet hat. „Wieso?“, fragte er zurück.
Hat dieser Elfmeter nicht Ihr Leben
verändert? „Warum das denn?“, ant-
wortete Brehme. In unserer Not
versuchten wir, wenigstens den nerv-
lichen Aspekt des kitzligen Augen-
blicks noch einmal zu beleuchten,
doch er sagte nur: „Angst? Ach was.
Ich wusste: Ich tu’ ihn rein.“ Rom,
Olympiastadion, 8. Juli 1990. Das
Datum steht dick im Geschichtsbuch
des deutschen Fußballs – doch der
dazugehörige Held tut so, als habe
er in jener nervenaufreibenden 84.
Spielminute nur mal schnell ein
kühles Pils aus dem Keller geholt.
Ach, was könnte Brehme für eine
tolle Geschichte erzählen. Die Angst
des Schützen beim Elfmeter – für den
Rest seines Lebens könnte er damit
auf Tournee gehen und einen Licht
bildervortrag halten, bei Vereins
jubiläen und Seniorentreffs. Er könn-
te von seinem Schweiß auf der Stirn
Manchmal sind wir Deutschen pfiffig.
Als die übrige Welt noch mit dem
Üben des aufrechten Gangs beschäf-
tigt war, sind wir schon Auto gefah-
ren, wir haben das Röntgen und die
Raketen erfunden, das Fernsehen,
den Computer, den Geigerzähler, das
Backpulver und den Butterkeks – und
schließlich auch vollends das Grau-
samste, was ein Mensch sich aus
denken kann: das Elfmeterschießen.
Karl Wald ist schuld.
Der war Schiedsrichter im bayrischen
Penzberg, aber auch Frisör, und beim
Haarschneiden ist ihm anno ’70 diese
Idee gekommen, die der Weltfußball
dann prompt übernommen hat: Nach
der Verlängerung nicht mehr eine
Münze zu werfen, sondern die Sache
unter Männern auszuschießen, mit
schier menschenverachtender Gna-
denlosigkeit. „Es ist“, hat Oscar-
Preisträger Sir Peter Ustinov einmal
gesagt, „als ob man einen Krieg be-
endet mit einer Partie russischem
Roulette zwischen ausgewählten
Gefreiten auf beiden Seiten“.
Jeder Elfmeter ist ein Himmelfahrts-
kommando, mindestens aber ein
Psychokrieg, und man kann es kei-
nem verdenken, wenn er auch mal
„nein“ sagt – wie Lothar Matthäus,
der beim WM-Finale 1990 kurz vor
Schluss, als es beim Stand von 0:0
Elfmeter gab, zu Andy Brehme mit
gegen ihn keiner gerne im Kasten.
Denn er verzögert und wartet auf
einen verräterischen Zucker des
Gegenübers, oder sagen wir es mit
Manuel Neuer: „Er verlädt den Tor-
wart.“ Würde Müller auch Neuer ver-
laden? Wir wissen es nicht, weil beide
auf derselben Seite stehen, doch
eines ist sicher: Neuer wäre präpariert.
Denn auch die deutschen Torhüter
gehen solche Elfmeterduelle ohne
quälerische Angst und mit großer
Gründlichkeit an. Im „Haus der Ge-
schichte der Bundesrepublik Deutsch-
land“ liegt der Beweis, ein zerknitter-
tes Blatt Papier. Diesen Spickzettel
hat sich Jens Lehmann im Herz
infarkt-Viertelfinale gegen die Ar
gentinier bei der WM 2006 in Berlin
in den Stutzen gesteckt – es war
ein Notizzettel vom Telefontisch im
Schlosshotel Grunewald, wo ihm der
Trainer Köpke vor dem Spiel drauf
gekritzelt hatte: „1 Riquelme links
hoch – 2 Crespo langer Anlauf/
rechts, kurzer Anlauf/links – 3 Hein-
ze, links flach – 4 Ayala lange warten,
langer Anlauf rechts – 5 Messi
links – 6 Aimar lange warten, links –
7 Rodríguez links.“
Im Einzelfall half es. Jedenfalls fin-
gerte Lehmann vor jedem Schuss
den Spickzettel aus seinen Socken,
schaute dem Argentinier vis à vis
stramm in die Augen – und der Rest
ist Geschichte.
WM-VIERTELFINALE 2006: JENS LEHMANN PARIERT
GEGEN DEN ARGENTINIER ESTEBAN CAMBIASSO.
„BEDEUTENDSTER ELFMETER DER DEUTSCHEN FUSSBALL
GESCHICHTE“: ANDY BREHME TRIFFT ZUM WM-GEWINN 1990.